Unrequested Home Delivery

Simone Schardt & Wolf Schmelter

Les Complices*, Zürich

2007


Teil von Surprise*Surprise

Kaum ein Raum ist so umfassend unter verschiedenen Prämissen hinsichtlich seiner sozialen, ökonomischen und politischen Konstituiertheit aus künstlerisch-kuratorischen Perspektiven betrachtet worden, wie der Ausstellungsraum. Dennoch scheinen nur wenige weitere Räume so hartnäckig mit der Illusion einer Transparenz behaftet zu sein, wie dieser. Unter dem Titel SURPRISE*SURPRISE unternehmen wir auf Einladung des Zürcher Kunstraumes Les Complices* den Versuch, eine Topologie des Ausstellungsraums nachzuzeichnen. Mittels Interventionen werden dazu von uns verschiedene Attribute des Ausstellungsraums – sei es die finanzielle Bedingtheit, das adressierte Publikum, die Einbettung in die Zürcher Kulturlandschaft – in ein Verhältnis zueinander gesetzt.


< Karte mit Textfragment aus Gelegenheitsarbeit einer Sklavin – Zur realistischen Methode, Alexander Kluge (1975)



Unter dem Titel Unrequested Home Delivery versenden Simone Schardt und Wolf Schmelter insgesamt 180 Textfragmente aus dem 1975 erschienenen Buch Gelegenheitsarbeit einer Sklavin – Zur realistischen Methode von Alexander Kluge an Adressen des Les Complices*-Verteilers. Das Buch zum Film enthält neben der Drehbuchversion das Skript des realisierten Filmes, die Abweichung vom Drehbuch war ein Grund für den damaligen deutschen Bundesminister des Inneren, dem Film Prämienmittel zu kürzen, eine Situation, die sich derzeit auch im hiesigen Kulturbetrieb in verschiedenen Konfliktsituationen als Drohgebärde aktualisiert.


Durch die Dekonstruktion des Textes und seiner anonymen Verbreitung eröffnet sich die Möglichkeit einer Neubewertung der Forderung nach einem Politischen in der Kunst und anderswo. Darin angelegt ist die Frage nach der experimentellen Wiederaufführbarkeit politischer Anliegen der 70er Jahre aus einer kritischen Perspektive. Ein Thema, das Gegenstand einer Veranstaltungsreihe im Les Complices* Mitte November sein wird.



Auszug aus Die Gelegenheitsarbeit einer Sklavin - Zur realistischen Methode von Alexander Kluge

Frankfurt am Main 1975, p. 17-18:


„Um sich mehr Kinder leisten zu können, unterhält Roswitha Bronski eine Abtreibungspraxis. Komplizierte Fälle vermittelt sie gegen Provision an fähige Ärzte. Der fähigste unter diesen Ärzten ist Dr. Genée. Er zahlt die Provision nicht. Als Roswitha mahnt, erteilt er ihr Hausverbot.

Frau A. Willek, Konkurrentin Roswithas, hat einen fehlerhaften Eingriff vorgenommen. Die verletzte Kundin sucht Hilfe bei Roswitha. Dr. Genée rettet die Verletzte, hält Roswitha für die Schuldige. Die Kriminalpolizei erscheint in Roswithas Privatwohnung. Ihr Mann, Franz Bronski, lässt sich anstelle Roswithas einsperren. Mit Hilfe eines Hundes erbricht Roswitha die amtlichen Siegel, die ihre Abtreibungspraxis verschliessen. Sie tauscht die Abtreibungsgeräte gegen ähnlich aussehendes tierärztliches Gerät aus. Bronski wird mangels Beweisen entlassen. Jetzt muss er die Familie ernähren: Chemiker bei der Firma Beauchamp & Co. Zusammengestaucht und ernährt von ihrem Mann, sucht Roswitha neue Wege: Sie will ihre Energie in Zukunft nicht mehr der Familie allein zuwenden, sondern politisch und gesellschaftlich aktiv werden.

Sie durchforscht die Stadt nach Kampfgelegenheiten. Eines Tages: Der Betrieb Beauchamp & Co, in dem Roswithas Mann arbeitet wird stillgelegt. Zweck: Verlegung nach Portugal. Roswitha schaltet sich in die Aufklärung der Belegschaft ein. Von der Chefsekretärin des Betriebes, einer ehemaligen Abtreibungskundin, verlangt sie den Schriftwechsel über die Betriebsverlegung heraus. Die Sekretärin weigert sich. Roswitha fährt nach Portugal, wo sie mit eigenen Augen sieht: „Neubauvorhaben der Firma Beauchamp & Co. “Roswitha und Sylvia fertigen Flugblätter an. Nachts bekleben sie die Wände des Betriebes. Inzwischen hat die Betriebsleitung, unabhängig von Roswitha und Sylvia, den Stillegungsplan aufgegeben. Roswithas Mann wird fristlos entlassen.

Jetzt muss Roswitha die Familie ernähren. Vor einer Fabrik hat sie einen Kiosk errichtet. Sie verkauft Würste, die sie in Informationsschriften einwickelt. Der Werkschutz beobachtet sie. Werkschützer mit Fernglas: ,Irgendeinen Sinn muss die Sache haben, aber welchen?’“