Outside we could hear the ocean

Simone Schardt & Wolf Schmelter

Konferenzraum Kuoni Haus, Zürich

2004


Teil des Ausstellungs- und Veranstaltungsprojekts Doing Glamour,

initiiert von Tom Holert, Institut für Theorie, ith der Zürcher Hochschule der Künste in Kooperation mit dem Migros Museum für Gegenwartskunst, Zürich


< Filmscreening von Scenes of the Life of Andy Warhol, Jonas Mekas (1965)



Im Glashaus

Von Tom Holert


Wo sich sonst das Management des Reiseveranstalters Kuoni versammelt, um unternehmerische Visionen und Stellenkürzungen zu diskutieren, kann man sich gut aufhalten. Für einen Abend zumindest. Der verglaste Kastenaufsatz auf dem Dach des Kuoni-Hochhauses in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs ist ein wahrhaft pastoraler Ort der Entscheidungsfindung und Effizienzsteigerung – ein Aussichtspunkt mit verschwenderischem Panoramablick über Zürich, der sich durch einen Schritt aus dem Konferenzraum hinaus auf die umlaufende Terrasse noch vervollständigen lässt, an dem es nicht erstaunen würde, sollte den Firmenlenkern hier der Sinn für die Realität der Arbeits- und Überlebenswelt gelegentlich abhanden kommen.


An diesem Abend im späten Oktober 2004 wurde das Entscheider-Penthouse, das zu vielen Spekulationen über die Welt der Touristikindustrie Anlass gibt, zum Projektionsraum für einen Ausflug in die Welt des New Yorker Undergroundfilms umgerüstet. Statt PowerPoint und Folien-Schau präsentierten die mobilen cineastischen Raumnehmer von Kinoapparatom zwei Filme von Jonas Mekas, dem Begründer von so vielem (u.a. der Zeitschrift Film Culture, dem „New American Cinema“, dem Anthology Film Archive, der Filmmakers' Cooperative). Als Filmemacher bevorzugt Jonas Mekas seit jeher das lange bis überlange Format, was nicht so verwundert, wenn man weiß, dass sein Thema das Leben und sein Genre das filmische Tagebuch ist, die Aufzeichnung des Lebens mit seinen Abschweifungen, Zufällen und Einzelheiten, tendenziell ohne Maß und ohne Ende.


Was machen die Filme von Mekas mit einem Ort, an dem die Abschweifung im Geschäftsalltag nur selten gefragt und geduldet ist, an dem es schnell und ökonomisch zugehen muss, an dem nicht lange herumgeredet werden sollte? Diese und ähnliche Fragen interessierten offenbar ein großes Publikum. Das Kuoni-Glashaus platzte aus allen Nähten, manche Zuspätgekommenen mussten abgewiesen werden, viele verfolgten die Vorführung von der Terrasse aus, von draußen durch die Fenster das Geschehen im Inneren verfolgend. Was sie sahen, waren zwei kürzere Filme von Mekas, Walden – Diaries, Notes and Sketches, Reel 5 von 1969 und Scenes of the Life of Andy Warhol, letzterer eine betörend schöne und auch rührende Würdigung eines Weggefährten aus vergangenen Tagen: Der Film wurde in der Fassung von 1990 gezeigt, die jene von 1965 und 1982 inkorporiert und um Tonaufnahmen von den Begräbnisfeierlichkeiten für Andy Warhol in der New Yorker St. Patrick's Cathedral ergänzt. Der Klang von Chor und Kirchenorgel unterlegt am Ende von Scenes frühere, aus der Hand gefilmte Bilder, die bei einem gemeinsamen Aufenthalt von Mekas und Warhol in Montauk auf Long Island in den 1960er Jahren entstanden sind. Vom Ende her werden damit die verschiedenen Situationen und „Szenen“, in denen Warhol in der Gesellschaft von Mitarbeitern, Porträtkundinnen oder Freunden zu sehen ist, auf den Tod bezogen und damit zu sozialen Stilleben, zu social natures mortes, transformiert.


Besonders ausführlich schildert Mekas die prächtigen Long-Island-Ausfahrten in die Landschaften der New-England-High-Society, zu den Lerners (Irving Lerner, der Musical-Komponist) und Radziwills (Lee Radziwill, Schwester von Jackie Kennedy/Onassis). Im Glashaus des Touristikunternehmens sahen wir Strandspaziergänge, Sonnenuntergänge, raufende Knaben, den Geburtstag der Tochter Radziwill, die von Onkel Andy ihren ersten Lippenstift erhält (als Inauguration in den Erwachsenenglamour), und andere paradiesische Momente. Scenes produziert phasenweise Bilder eines Ozeans aus Luxus, Schönheit und Glück, angefüllt mit Todesahnung und Melancholie. So attraktiv dieses Footage auch erscheinen mag, mit all seiner stilsicheren Patina, mit seinen privatisierenden Prominenten und der scheinbaren Naivität bloßer Augenzeugenschaft, erweist es sich doch als ungeeignet für die Urlaubswerbung. Im Glashaus, bei Einbruch der Dunkelheit, wurde man vielmehr Zeuge einer Verheißung des Unvereinnahmbaren in 16-Millimeter.


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